
Allgemeine Publikationen
Schilddrüse - Ergebnisse der aktuellen klinischen Forschung
Die Folgen von Tschernobyl
Chr. Reiners
Klinik und Poliklinik für Nuklearmedizin der Universität Würzburg
Josef-Schneider-Str. 2, 97080 Würzburg
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(09 31) 2 01 22 47
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Aus dem Inhalt:
Schlüsselwörter
Schilddrüsenkarzinom bei Kindern, Strahleninduktion, Reaktorunfall von Tschernobyl, Radioiodtherapie, Iodblockade
Zusammenfassung
Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 ist die Häufigkeit des Schilddrüsenkrebses bei Kindern in den besonders betroffenen Gebieten Weißrusslands und der Ukraine deutlich angestiegen. (Anstieg der relativen Inzidenz in Weißrussland um den Faktor 10). Im Vergleich zu aktuellen Erhebungen zum Schilddrüsenkrebs bei deutschen Kindern sind die Raten papillärer Karzinome (98 % versus 78 %) sowie organüberschreitende Tumoren (49 % versus 36 %) sowie Fälle mit multifokalem Wachstum (66 % versus 20 %) erhöht. Im Rahmen eines weißrussisch-deutschen Projekts konnten innerhalb der letzten 5 Jahre 145 Kinder mit besonders fortgeschrittenen Stadien des Schilddrüsenkrebses aus Weißrussland in Deutschland behandelt werden. Dabei wurden bisher in 75 % der Fälle komplette Remissionen und bei den restlichen Kindern zumindest Teilremissionen erzielt. Das Therapieprojekt erhielt gleichzeitig auch ein Programm zur Aus- und Weiterbildung von weißrussischen Ärzten und Naturwissenschaftlern auf dem Gebiet der nuklearmedizinischen Therapie des Schilddrüsenkrebses. Als Konsequenz aus der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl hat die deutsche Strahlenschutzkommission empfohlen, die Eingreifrichtwerte für die Verabreichung von Kaliumiodid im Falle eines Reaktorunfalls zu senken und insbesondere Kinder und Schwangere rechtzeitig mit Iodtabletten zu versorgen.
Die Folgen von Tschernobyl
130 km nördlich von Kiew, der Hauptstadt der Ukraine, befindet sich in 30 km Entfernung von der Grenze zu Weißrussland das Kernkraftwerk Tschernobyl. In der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 führte man im Block IV einen Test auf Funktionsfähigkeit der Notkühlung bei Leistungsverlust der Reaktorturbinen durch. In Folge unzureichender Vorbereitung des Tests, der ohnehin gegen die Sicherheitsrichtlinien verstieß und schwerer konstruktiver Mängel des Reaktors, kam es zu zwei heftigen Explosionen und dem Ausbruch eines Feuers, das wegen der Entzündung des Graphits aus dem Reaktor erst am 9. Mai 1986 gelöscht werden konnte. In Folge des Graphitbrands wurden in den ersten 10 Tagen nach der Explosion große Mengen von Radioaktivität freigesetzt. Nach heutigen Schätzungen handelte es sich dabei um insgesamt ca. 12 x 1018 Bq (etwa 0,3 Milliarden Ci), darunter 1,8 x 1018 Bq I-131. Die Radioaktivität wurde zunächst mit der Hauptwindrichtung nordöstlich über die Gebiete der Ukraine, Weißrusslands und des westlichen Russlands verfrachtet. Insgesamt 70 % der Radioaktivität gingen auf dem Territorium Weißrusslands nieder, wobei insbesondere die Gebiete um die Städte Gomel und Brest besonders hoch kontaminiert wurden.
Die systematischsten Untersuchungen zur Zunahme der Schilddrüsen-krebshäufigkeit bei Kindern liegen aus Weißrussland vor (Demidchik 1997); im Zeitraum von 1986 bis 1996 sind dort insgesamt 508 Kinder an Schilddrüsenkrebs erkrankt. Nach den vorliegenden Angaben aus der Ukraine und Russland dürfte die Gesamtzahl der in den betroffenen Ländern der GUS an Schilddrüsenkrebs erkrankten Kinder heute bei etwas über 1.000 liegen (Reiners 1997). Am besten vergleichbar mit der Erwartungshäufigkeit aus westlichen Ländern sind die Angaben zur relativen Inzidenz pro 100.000 Kinder jünger als 15 Jahre. In Deutschland und in anderen Ländern Westeuropas ist jährlich mit 0,3 bis 0,5 Neuerkrankungen pro 100.000 Kinder dieser Altersgruppe zu rechen. Von 1990 bis 1996 nahm die jährliche relative Inzidenz für Gesamt-Weißrussland, die zwischen 1986 und 1988 ungefähr bei dem Erwartungswert westlicher Länder lag, etwa um den Faktor 10 zu. Dieser Anstieg ist für das besonders hoch kontaminierte Gebiet um Gomel (Faktor 30) wesentlich ausgeprägter.
72 % der Kinder waren zum Zeitpunkt der Reaktorkatastrophe jünger als 5 Jahre. In 97 % der Fälle handelt es sich um papilläre Schilddrüsenkarzinome, knapp die Hälfte der Tumore (49 %) wuchs lokal invasiv (pT4) und war zum Zeitpunkt der Diagnose bereits in die Halsweichteile infiltriert. In 67 % der Fälle wurden Lymphknotenmetastasen (pN1) und in 15 % Fernmetastasen (pM1) festgestellt. Multifokales Wachstum wurde in 66 % der Fälle beschrieben (Demidchik 1997).
Eine aktuelle multizentrische Studie (Farahati 1997) an 114 Kindern und Jugendlichen jünger als 18 Jahre aus Deutschland zeigt gewisse Unterschiede im Vergleich zu den aus Weißrussland bekannten Daten. Zunächst finden sich mit 22 % der Fälle wesentlich häufiger follikuläre Karzinome als bei den weißrussischen Kindern (2 %). Der Prozentsatz von Fällen mit organüberschreitendem Wachstum ist bei deutschen Kindern mit 38 % niedriger als bei weißrussischen Kindern mit 49 %. Lymphknotenmetastasen fanden sich in der deutschen Studie ähnlicher häufig (69 %) und Fernmetastasen häufiger (36 %). Multizentrisches Wachstum wurde bei deutschen Kindern wesentlich seltener (20 %) beschrieben. Die geringere Häufigkeit von Fernmetastasen ist zumindest zum Teil auf Untererfassung in Weißrussland zurückzuführen, da dort nicht durchgängig ein Staging mittels I-131-Ganzkörperszintigraphie gemacht wurde. Disseminierte Lungenmetastasen des Schilddrüsenkarzinoms bei Kindern sind in mindestens einem Drittel der Fälle röntgendiagnostisch nicht erfassbar (Kellner 1996).
Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Rate papillärer Karzinome sowie Fälle mit organüberschreitendem und multifokalem Wachstum bei den weißrussischen Fällen wesentlich höher ist als bei deutschen Kindern. Die Frequenz von Lymphknotenmetastasen ist in beiden Kollektiven etwa gleich hoch. Die aus Weißrussland berichtete geringere Häufigkeit von Fernmetastasen darf nicht als Zeichen einer geringen Aggressivität der dort diagnostizierten Tumoren interpretiert werden.
Im Rahmen eines vom Gemeinschaftsausschuss Strahlenforschung begleiteten weißrussisch-deutschen Projekt, das von den deutschen Elektrizitäts-versorgungsunternehmen finanziell unterstützt wurde, konnten im Zeitraum vom 01.04.1993 bis 31.12.1997 145 Kinder mit besonders fortgeschrittenen Stadien des Schilddrüsenkrebs aus Weißrussland in Deutschland behandelt werden. Die Kinder waren zunächst im Zentrum für Schilddrüsentumoren in Minsk (Direktor Prof. Dr. E. P. Demidchik) operiert worden. Der größte Teil dieser Kinder stammte aus dem Gomelgebiet. Bedingt durch die Selektion besonders fortgeschrittener Fälle handelt es sich bei den 145 Kindern in 86 % um Fälle mit organüberschreitendem Wachstum; Lymphknotenmetastasen lagen in 97 % und Fernmetastasen in 51 % der Fälle vor. Die Kinder kamen in Gruppen von vier, begleitet von einer weißrussischen Ärztin bzw. einem weißrussischen Arzt mit dem Flugzeug von Minsk nach Deutschland. Sie blieben für eine Woche auf der Therapiestation der Nuklearmedizinischen Klinik der Universität Essen bzw. ab dem 01.01.1995 der Universität Würzburg. Dort wurde eine Nachbehandlung mit Radioiod nach den in Europa und den USA üblichen Behandlungsprotokollen durchgeführt (Verabreichung von 50 MBq I-131 pro kg Körpergewicht zur Elimination von Schilddrüsenresten bzw. von 100 MBq I-131 pro kg Körpergewicht zur Ablation von Metastasen).
Bei 130 der bis Ende 1997 in Deutschland behandelten 145 weißrussischen Kinder wurde mehr als eine Radioiodtherapie durchgeführt. In diesen Fällen ist es möglich, das Ergebnis der jeweils vorhergehenden Behandlung mittels nuklearmedizinischer Untersuchungen, Ultraschalluntersuchungen sowie Röntgenaufnahmen der Lunge und der Bestimmung des Tumormarkers Thyreoglobulin im Serum zu überprüfen. Bei 98 der 130 Kinder (= 75 %) konnte bisher eine komplette Remission erreicht werden. Bei den übrigen Kindern war in allen Fällen zumindest Teilremissionen festzustellen. Eine endgültige Beurteilung der Erfolgsquote ist jedoch noch nicht möglich, da die Behandlung bei vielen Kindern noch nicht abgeschlossen ist und sich weitere Therapiekurse anschließen müssen.
Wesentlicher Bestandteil des Projekts war auch die Aus- und Weiterbildung von weißrussischen Ärzten und Naturwissenschaftlern auf dem Gebiete der nuklearmedizinischen Therapie des Schilddrüsenkrebses. Insgesamt hielten sich seit dem 01.04.1993 41 Ärzte und Physiker für insgesamt 125 Wochen zur Ausbildung in Deutschland auf. In der Zwischenzeit konnten diese Kollegen in Minsk eine kleine Therapiestation in Betrieb nehmen, deren apparative Ausstattung mit Mitteln der Europäischen Union finanziert wurde. Von dort wird jetzt der größte Teil der weißrussischen Kinder mit Schilddrüsenkrebs versorgt.
Auch Deutschland war von dem Fallout nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl betroffen. Glücklicherweise ist die hierdurch bedingte Strahlenexposition der Bevölkerung jedoch gering und bewegten sich im Schwankungsbereich der normalen Variation der jährlichen Strahlenexposition aus natürlichen Quellen (Reiners 1997). Obwohl in Deutschland keine Zunahme der Schilddrüsenkarzinom-Inzidenz bei Kindern festzustellen war, hat man sich trotzdem vorsorglich mit der Anpassung der Empfehlung zur Iodblockade der Schilddrüse nach einem Reaktorunfall auf der Grundlage der bedauerlichen Erfahrungen in Weißrussland, der Ukraine und Russland befasst (Reiners 1996). Die Strahlenschutzkommission, die die Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit in allen Fragen des Strahlenschutzes berät, hat 1996 empfohlen, die Eingreifrichtwerte für die Verabreichung von Kaliumiodid zu senken, wobei insbesondere Kinder und Schwangere rechtzeitig mit Iodtabletten zu versorgen sind (SSK 1997). Während die Gabe hoher Ioddosen in der Größenordnung des Tausendfachen der täglichen Nahrungszufuhr an jüngere Personen relativ unkritisch ist, kann es bei älteren Patienten mit länger vorbestehenden Iodmangelkröpfen unter Umständen zu erheblichen Komplikationen kommen, daher häufig mit Störungen des Iodstoffwechsels im Sinne der funktionellen Autonomie zu rechnen ist. Da das Risiko strahleninduzierter Schilddrüsenkarzinome nach den vorliegenden strahlenbiologischen Erkenntnissen nur bei Kindern und allenfalls jungen Erwachsenen erhöht ist, empfiehlt die SSK Personen älter als 45 Jahre von der Iodblockade der Schilddrüse auszunehmen.
Literatur
Die Folgen von Tschernobyl
Chr. Reiners
Klinik und Poliklinik für Nuklearmedizin der Universität Würzburg
Josef-Schneider-Str. 2, 97080 Würzburg



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Aus dem Inhalt:
- Schlüsselwörter
- Zusammenfassung
- Die Reaktorkatastrophe vom 26. April 1986
- Schilddrüsenkrebs bei Kindern aus Weißrussland und der Ukraine
- Aktuelle Erhebungen zum Schilddrüsenkrebs bei Kindern aus Deutschland
- Ergebnisse der Radioiodtherapie bei Kindern mit fortgeschrittenen Stadien des Schilddrüsenkrebs aus Weißrussland
- Folgerungen aus der Tschernobyl-Katastrophe für Deutschland
- Literatur
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Schlüsselwörter
Schilddrüsenkarzinom bei Kindern, Strahleninduktion, Reaktorunfall von Tschernobyl, Radioiodtherapie, Iodblockade
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Zusammenfassung
Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 ist die Häufigkeit des Schilddrüsenkrebses bei Kindern in den besonders betroffenen Gebieten Weißrusslands und der Ukraine deutlich angestiegen. (Anstieg der relativen Inzidenz in Weißrussland um den Faktor 10). Im Vergleich zu aktuellen Erhebungen zum Schilddrüsenkrebs bei deutschen Kindern sind die Raten papillärer Karzinome (98 % versus 78 %) sowie organüberschreitende Tumoren (49 % versus 36 %) sowie Fälle mit multifokalem Wachstum (66 % versus 20 %) erhöht. Im Rahmen eines weißrussisch-deutschen Projekts konnten innerhalb der letzten 5 Jahre 145 Kinder mit besonders fortgeschrittenen Stadien des Schilddrüsenkrebses aus Weißrussland in Deutschland behandelt werden. Dabei wurden bisher in 75 % der Fälle komplette Remissionen und bei den restlichen Kindern zumindest Teilremissionen erzielt. Das Therapieprojekt erhielt gleichzeitig auch ein Programm zur Aus- und Weiterbildung von weißrussischen Ärzten und Naturwissenschaftlern auf dem Gebiet der nuklearmedizinischen Therapie des Schilddrüsenkrebses. Als Konsequenz aus der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl hat die deutsche Strahlenschutzkommission empfohlen, die Eingreifrichtwerte für die Verabreichung von Kaliumiodid im Falle eines Reaktorunfalls zu senken und insbesondere Kinder und Schwangere rechtzeitig mit Iodtabletten zu versorgen.
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Die Folgen von Tschernobyl
Die Reaktorkatastrophe vom 26. April 1986
130 km nördlich von Kiew, der Hauptstadt der Ukraine, befindet sich in 30 km Entfernung von der Grenze zu Weißrussland das Kernkraftwerk Tschernobyl. In der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 führte man im Block IV einen Test auf Funktionsfähigkeit der Notkühlung bei Leistungsverlust der Reaktorturbinen durch. In Folge unzureichender Vorbereitung des Tests, der ohnehin gegen die Sicherheitsrichtlinien verstieß und schwerer konstruktiver Mängel des Reaktors, kam es zu zwei heftigen Explosionen und dem Ausbruch eines Feuers, das wegen der Entzündung des Graphits aus dem Reaktor erst am 9. Mai 1986 gelöscht werden konnte. In Folge des Graphitbrands wurden in den ersten 10 Tagen nach der Explosion große Mengen von Radioaktivität freigesetzt. Nach heutigen Schätzungen handelte es sich dabei um insgesamt ca. 12 x 1018 Bq (etwa 0,3 Milliarden Ci), darunter 1,8 x 1018 Bq I-131. Die Radioaktivität wurde zunächst mit der Hauptwindrichtung nordöstlich über die Gebiete der Ukraine, Weißrusslands und des westlichen Russlands verfrachtet. Insgesamt 70 % der Radioaktivität gingen auf dem Territorium Weißrusslands nieder, wobei insbesondere die Gebiete um die Städte Gomel und Brest besonders hoch kontaminiert wurden.
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Schilddrüsenkrebs bei Kindern aus Weißrussland und der Ukraine
Die systematischsten Untersuchungen zur Zunahme der Schilddrüsen-krebshäufigkeit bei Kindern liegen aus Weißrussland vor (Demidchik 1997); im Zeitraum von 1986 bis 1996 sind dort insgesamt 508 Kinder an Schilddrüsenkrebs erkrankt. Nach den vorliegenden Angaben aus der Ukraine und Russland dürfte die Gesamtzahl der in den betroffenen Ländern der GUS an Schilddrüsenkrebs erkrankten Kinder heute bei etwas über 1.000 liegen (Reiners 1997). Am besten vergleichbar mit der Erwartungshäufigkeit aus westlichen Ländern sind die Angaben zur relativen Inzidenz pro 100.000 Kinder jünger als 15 Jahre. In Deutschland und in anderen Ländern Westeuropas ist jährlich mit 0,3 bis 0,5 Neuerkrankungen pro 100.000 Kinder dieser Altersgruppe zu rechen. Von 1990 bis 1996 nahm die jährliche relative Inzidenz für Gesamt-Weißrussland, die zwischen 1986 und 1988 ungefähr bei dem Erwartungswert westlicher Länder lag, etwa um den Faktor 10 zu. Dieser Anstieg ist für das besonders hoch kontaminierte Gebiet um Gomel (Faktor 30) wesentlich ausgeprägter.
72 % der Kinder waren zum Zeitpunkt der Reaktorkatastrophe jünger als 5 Jahre. In 97 % der Fälle handelt es sich um papilläre Schilddrüsenkarzinome, knapp die Hälfte der Tumore (49 %) wuchs lokal invasiv (pT4) und war zum Zeitpunkt der Diagnose bereits in die Halsweichteile infiltriert. In 67 % der Fälle wurden Lymphknotenmetastasen (pN1) und in 15 % Fernmetastasen (pM1) festgestellt. Multifokales Wachstum wurde in 66 % der Fälle beschrieben (Demidchik 1997).
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Aktuelle Erhebungen zum Schilddrüsenkrebs bei Kindern aus Deutschland
Eine aktuelle multizentrische Studie (Farahati 1997) an 114 Kindern und Jugendlichen jünger als 18 Jahre aus Deutschland zeigt gewisse Unterschiede im Vergleich zu den aus Weißrussland bekannten Daten. Zunächst finden sich mit 22 % der Fälle wesentlich häufiger follikuläre Karzinome als bei den weißrussischen Kindern (2 %). Der Prozentsatz von Fällen mit organüberschreitendem Wachstum ist bei deutschen Kindern mit 38 % niedriger als bei weißrussischen Kindern mit 49 %. Lymphknotenmetastasen fanden sich in der deutschen Studie ähnlicher häufig (69 %) und Fernmetastasen häufiger (36 %). Multizentrisches Wachstum wurde bei deutschen Kindern wesentlich seltener (20 %) beschrieben. Die geringere Häufigkeit von Fernmetastasen ist zumindest zum Teil auf Untererfassung in Weißrussland zurückzuführen, da dort nicht durchgängig ein Staging mittels I-131-Ganzkörperszintigraphie gemacht wurde. Disseminierte Lungenmetastasen des Schilddrüsenkarzinoms bei Kindern sind in mindestens einem Drittel der Fälle röntgendiagnostisch nicht erfassbar (Kellner 1996).
Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Rate papillärer Karzinome sowie Fälle mit organüberschreitendem und multifokalem Wachstum bei den weißrussischen Fällen wesentlich höher ist als bei deutschen Kindern. Die Frequenz von Lymphknotenmetastasen ist in beiden Kollektiven etwa gleich hoch. Die aus Weißrussland berichtete geringere Häufigkeit von Fernmetastasen darf nicht als Zeichen einer geringen Aggressivität der dort diagnostizierten Tumoren interpretiert werden.
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Ergebnisse der Radioiodtherapie bei Kindern mit fortgeschrittenen Stadien des Schilddrüsenkrebs aus Weißrussland
Im Rahmen eines vom Gemeinschaftsausschuss Strahlenforschung begleiteten weißrussisch-deutschen Projekt, das von den deutschen Elektrizitäts-versorgungsunternehmen finanziell unterstützt wurde, konnten im Zeitraum vom 01.04.1993 bis 31.12.1997 145 Kinder mit besonders fortgeschrittenen Stadien des Schilddrüsenkrebs aus Weißrussland in Deutschland behandelt werden. Die Kinder waren zunächst im Zentrum für Schilddrüsentumoren in Minsk (Direktor Prof. Dr. E. P. Demidchik) operiert worden. Der größte Teil dieser Kinder stammte aus dem Gomelgebiet. Bedingt durch die Selektion besonders fortgeschrittener Fälle handelt es sich bei den 145 Kindern in 86 % um Fälle mit organüberschreitendem Wachstum; Lymphknotenmetastasen lagen in 97 % und Fernmetastasen in 51 % der Fälle vor. Die Kinder kamen in Gruppen von vier, begleitet von einer weißrussischen Ärztin bzw. einem weißrussischen Arzt mit dem Flugzeug von Minsk nach Deutschland. Sie blieben für eine Woche auf der Therapiestation der Nuklearmedizinischen Klinik der Universität Essen bzw. ab dem 01.01.1995 der Universität Würzburg. Dort wurde eine Nachbehandlung mit Radioiod nach den in Europa und den USA üblichen Behandlungsprotokollen durchgeführt (Verabreichung von 50 MBq I-131 pro kg Körpergewicht zur Elimination von Schilddrüsenresten bzw. von 100 MBq I-131 pro kg Körpergewicht zur Ablation von Metastasen).
Bei 130 der bis Ende 1997 in Deutschland behandelten 145 weißrussischen Kinder wurde mehr als eine Radioiodtherapie durchgeführt. In diesen Fällen ist es möglich, das Ergebnis der jeweils vorhergehenden Behandlung mittels nuklearmedizinischer Untersuchungen, Ultraschalluntersuchungen sowie Röntgenaufnahmen der Lunge und der Bestimmung des Tumormarkers Thyreoglobulin im Serum zu überprüfen. Bei 98 der 130 Kinder (= 75 %) konnte bisher eine komplette Remission erreicht werden. Bei den übrigen Kindern war in allen Fällen zumindest Teilremissionen festzustellen. Eine endgültige Beurteilung der Erfolgsquote ist jedoch noch nicht möglich, da die Behandlung bei vielen Kindern noch nicht abgeschlossen ist und sich weitere Therapiekurse anschließen müssen.
Wesentlicher Bestandteil des Projekts war auch die Aus- und Weiterbildung von weißrussischen Ärzten und Naturwissenschaftlern auf dem Gebiete der nuklearmedizinischen Therapie des Schilddrüsenkrebses. Insgesamt hielten sich seit dem 01.04.1993 41 Ärzte und Physiker für insgesamt 125 Wochen zur Ausbildung in Deutschland auf. In der Zwischenzeit konnten diese Kollegen in Minsk eine kleine Therapiestation in Betrieb nehmen, deren apparative Ausstattung mit Mitteln der Europäischen Union finanziert wurde. Von dort wird jetzt der größte Teil der weißrussischen Kinder mit Schilddrüsenkrebs versorgt.
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Folgerungen aus der Tschernobyl-Katastrophe für Deutschland
Auch Deutschland war von dem Fallout nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl betroffen. Glücklicherweise ist die hierdurch bedingte Strahlenexposition der Bevölkerung jedoch gering und bewegten sich im Schwankungsbereich der normalen Variation der jährlichen Strahlenexposition aus natürlichen Quellen (Reiners 1997). Obwohl in Deutschland keine Zunahme der Schilddrüsenkarzinom-Inzidenz bei Kindern festzustellen war, hat man sich trotzdem vorsorglich mit der Anpassung der Empfehlung zur Iodblockade der Schilddrüse nach einem Reaktorunfall auf der Grundlage der bedauerlichen Erfahrungen in Weißrussland, der Ukraine und Russland befasst (Reiners 1996). Die Strahlenschutzkommission, die die Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit in allen Fragen des Strahlenschutzes berät, hat 1996 empfohlen, die Eingreifrichtwerte für die Verabreichung von Kaliumiodid zu senken, wobei insbesondere Kinder und Schwangere rechtzeitig mit Iodtabletten zu versorgen sind (SSK 1997). Während die Gabe hoher Ioddosen in der Größenordnung des Tausendfachen der täglichen Nahrungszufuhr an jüngere Personen relativ unkritisch ist, kann es bei älteren Patienten mit länger vorbestehenden Iodmangelkröpfen unter Umständen zu erheblichen Komplikationen kommen, daher häufig mit Störungen des Iodstoffwechsels im Sinne der funktionellen Autonomie zu rechnen ist. Da das Risiko strahleninduzierter Schilddrüsenkarzinome nach den vorliegenden strahlenbiologischen Erkenntnissen nur bei Kindern und allenfalls jungen Erwachsenen erhöht ist, empfiehlt die SSK Personen älter als 45 Jahre von der Iodblockade der Schilddrüse auszunehmen.
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Literatur
- Demidchik E P (1997) Entwicklung der Schilddrüsenkarzinom-Inzidenz in Weißrussland von 1976 bis 1996. Persönliche Mitteilung, 1997.
- Farahati J, Bucsky T, Parlowsky T, Mäder U, Reiners C (1997) Characteristics of differentiated thyroid carcinoma in children an adolenscens with respect to age, gender and histology. Cancer 80; 2156 - 2162.
- Reiners Chr (1994) Prophylaxe strahleninduzierter Schilddrüsenkarzinome bei Kindern nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. NuklearMedizin 33: 229 - 234.
- Reiners C (1997) 10 Jahre nach Tschernobyl - die radiologischen Auswirkungen der Reaktorkatastrophe auf Deutschland, Österreich und die betroffenen Gebiete der GUS. In: Fueger F, Reiners Chr, Kainberger F, Messerschmidt O (Hrsg) 100 Jahre nach Entdeckung der Radioaktivität. Strahlenschutz in Forschung und Praxis Band 40, G Fischer Stuttgart Jena Lübeck Ulm, Seite 149 - 161.
- Strahlenschutzkommission beim Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (1996) Iodblockade der Schilddrüse bei kerntechnischen Unfällen.
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